© Frank Schultze/Kloster Disentis
© Frank Schultze/Kloster Disentis

Dem Himmel ganz nah

Murezi Casanova ist seit 16 Monaten einer der Brüder, die der Gemeinschaft im Kloster Disentis angehören. Der gelernte Landschaftsgärtner ist mit 21 Jahren der jüngste Ordensbruder. Der Novize ist für die Grünanlagen und den Klostergarten zuständig – und hat den Wunsch, auch als Seelsorger tätig zu sein.

Das Kloster liegt in den Schweizer Bergen im Bündner Oberland, 1100 Meter über dem Meeresspiegel. Die Mönche genießen hier einen traumhaften Ausblick. Morgens schiebt sich die Sonne majestätisch über die schneebedeckten Gipfel der Alpen, die Luft schmeckt kristallklar, der Kopf ist ganz klar.

Murezi Casanova ist in einem kleinen Dorf rund 30 Kilometer entfernt aufgewachsen. Schon als Kind habe ihn dieser magische Ort fasziniert, erklärt er. Sein Tag beginnt sehr früh, noch vor Sonnenaufgang. Bereits um 5.30 Uhr trifft sich die Gemeinschaft zum Lobgesang. Mit ihren sonoren Stimmen erfüllen die Mönche das mächtige Schiff der Klosterkirche bis hin zu den sakralen Deckenmalereien.

Auch nach dem Frühstück wird der Morgen und Vormittag von spirituellem Singen, Psalmen und dem Studium von Bibel und Katechismus bestimmt. »Ora et labora, bete und arbeite – das ist der Auftrag, den uns Gott und der heilige Benedikt erteilt haben«, erklärt Bruder Murezi. Zum Mittagessen gibt es heute Fleisch und Gemüse. Das Gemüse stammt aus dem altehrwürdigen Garten oder dem kleinen Gewächshaus des Klosters. Bruder Murezi baut auch Mangold an. Mit dem grünen Blattgemüse bereiten die
Bündner ihre Spezialität Capuns zu. Grünkohl oder – wie man hier sagt – Federkohl gedeiht hier oben ebenfalls sehr gut. Er wird von den Benediktinern als vitaminreiche Speise geschätzt und für eine Heilsalbe verwendet. Etwas abseits der langen Tafel, an der gespeist wird, sitzt ein Bruder und liest aus der Bibel vor. Sprechen ist während der Mahlzeit nicht erlaubt. Die Mönche reichen sich Brot in einer Holzschale, jeder schneidet eine Scheibe ab. Ein Krug mit Wasser und ein Krug mit Wein werden gereicht. »Wir Mönche pflegen eine jahrhundertealte Tradition«, erklärt der Novize.

Himmlische Düfte

Am Nachmittag tauscht er in seinem einfach eingerichteten Zimmer, das hier »Zelle« genannt wird, seine schwarze Mönchskutte gegen grün-graue Arbeitskleidung. Jetzt ist »labora«, die Arbeit an der Reihe. Besonders stolz ist Bruder Murezi auf den alten Klosterplatz. Hier hat der junge Mann bunte Tulpen in Rot, Weiß und Gelb angepflanzt, die in der Sonne farbenfroh in voller Schönheit erstrahlen. Weiter hinten taucht der Besucher in ein Kräutermeer, wohlige Düfte von Thymian, Rosmarin oder Zitronenmelisse steigen in die Nase. Allerlei Sträucher gedeihen prächtig unter dem wohltuenden Einfluss des Fachmanns. »Ich bin sehr gerne im Freien«, sagt der Novize mit den kurzen Haaren und den dunklen Augen. Glockengeläut begleitet ihn bei seiner Arbeit, die auf dem steilen Gelände oftmals sehr anstrengend ist. Bruder Murezi packt gerne mit an und lädt Arbeitsgeräte von der Ladefläche eines dunkelgrauen Geräteträgers. »Heute verpflanze ich einen Mammutbaum«, lacht er und schafft mit dem Frontlader Abraum beiseite.

Ein Hauch von Ewigkeit

Mit gelernten Handgriffen bindet der Novize einen Stoffsack um das Wurzelwerk und hebt den Baum vorsichtig mit der Gabel aus dem Erdreich. »Schon vor Hunderten von Jahren haben Mönche hier mit dieser exotischen Baumart experimentiert«, erklärt er. Vor dem Kloster soll der Baum sich auf einer großen Wiese nun völlig frei entfalten können. Bruder Murezi steht einige Augenblicke ganz ruhig da, als der Baum am neuen Standort eingepflanzt ist. Das Grün der Wiesen verströmt einen angenehmen Duft. Er sucht diesen Platz oft mit anderen Glaubensbrüdern auf. Gemeinsam genießen sie die Schönheit der Natur. Unter ihnen ist auch Bruder Martin, Internatspräfekt und Lehrer für Religion am Gymnasium und Internat Kloster Disentis. Wenn sie mit ihren weiten Gewändern über die Berghänge gehen und die firnbedeckten Gipfel im Hintergrund aufragen, weht hier ein Hauch von Ewigkeit.

Bruder Martin und Bruder Murezi teilen neben ihrer Verbundenheit zur Religion auch die Freude am Fußball. Zusammen mit Internatsschülern kicken die beiden gerne auf dem Fußballplatz, den Bruder Murezi gerade erst frisch gemäht hat. Die barocken Kuppeltürme der Klosterkirche ragen nur ein bisschen über die Grasnarbe. Der Ausblick ist weit. Ein Tor fällt, ausgelassener Jubel. Wohl der Fußballplatz mit der schönsten Aussicht der Welt! Bis zum Sommer ist der junge Mönch noch Novize, dann legt er seine ersten Gelübde ab. Sein Tag wird wieder in aller Frühe beginnen – so wie es in Disentis seit mehr als 1400 Jahren Tradition ist.

© Frank Schultze/Kloster Disentis
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